Contergangeschädigt – und jetzt Pilot!


Dr. Jan Schulte-Hillen ist auf dem Segelflugplatz groß geworden. Oft und mit großer Begeisterung ist er mit seinem Vater mitgeflogen. Eines Tages selbst am Steuerknüppel sitzen zu dürfen – diese Hoffnung konnte sein Vater ihm allerdings nicht machen, denn Jans Arme sind durch Contergan beidseitige verkürzt.

1982, im Alter von 21 Jahren, unternahm er den ersten Versuch, ein Tauglichkeitszeugnis zu bekommen – erfolglos. 1985 wurde der Antrag auf ein Tauglichkeitszeugnis zur Ausbildung zum Ballonfahrer abgelehnt, Jan Schulte-Hillen fuhr weiterhin das Verfolgerfahrzeug für die Bodencrew. 1988 unternahm er den nächsten Versuch, diesmal über den DULV zur Ausbildung als UL-Pilot. Der Fliegerarzt machte die Erteilung des Tauglichkeitszeugnisses vom Bestehen eines Checkflugs abhängig, der Fluglehrer die Aufnahme der Schulung von einem positiven Bescheid der fliegerärztlichen Untersuchungsstelle. Entnervt konzentrierte er sich zunächst auf die Theorie: Sprechfunkzeugnis und Ablegen der Theorieprüfung.

Dann war erst mal Pause: Als junger Arzt hatte er keine Zeit für fliegerische Ambitionen. Umzug vom Münsterland nach München, Familiengründung - es gab andere Ziele und Sorgen.

Sein Beruf brachte Dr. Jan Schulte-Hillen erneut einen intensiven Kontakt zur Fliegerei: Von 1996 bis 2008 verbrachte er unzählige Stunden an Bord von Linienflugzeugen, um verunfallte oder im Ausland erkrankte Bundesbürger wieder in die Heimat zurückzubringen. Er wurde, wie er selbst sagt, zu einem richtigen Kerosin-Junkie, da das Boarden vom Krankenwagen ja nicht über das Gate, sondern über das Rollfeld erfolgt, und man die ganzen Geräusche und Gerüche der Fliegerei ohne Filter mitbekommt.

In der Regel konnte er zumindest auf dem Hinflug im Cockpit mitfliegen und so die Anflugperspektive von Flughäfen aus 72 Ländern kennen lernen. Wenn er allerdings im Cockpit beobachtete, wie viele Schalter und Regler mit der Hand betätigt werden mussten, wurde ihm ziemlich schnell klar, dass es niemals funktionieren würde, eine Sitzposition einzunehmen, bei der er mit seinen nur etwa 20 cm langen Armen die Schalter erreichen könnte.

Ausgelöst durch ein Youtube Video über Jessica Cox, die ohne Arme ein Flugzeug vom Typ Ercoupe fliegt (siehe www.rolliflieger.de/Jessica_Cox.html ), nahm er 2014 Kontakt zum Verkäufer eines solchen Flugzeugs in Deutschland auf. In dieser „hinreißenden“ Ercoupe drehte er mit dem Besitzer ein paar Stunden über dem Taunus Runden, bei denen er selbst das Steuerhorn in die Hand nehmen konnte. Aber auch das Fliegen einer Ercoupe, die ja ein „richtiges“ Flugzeug ist, hätte wieder eine Auseinandersetzung mit dem LBA bedeutet. (www.ercoupe.com, www.viehweger.org/deutsch/fliegen/erco-0.htm)

Da schlug eine Pressemeldung über die 120-kg-Klasse wie ein Blitz ein: Fliegen ohne Medical. 24 Stunden,  nachdem Dr. Schulte-Hillen  davon erfahren hatte, war ihm klar, dass sein Flugzeug eine SONG sein würde, ein bildhübscher Motorsegler mit Doppelrumpf und Elektro-Antrieb (www.songairplane.com/song/). Schon am nächsten Wochenende schaute er sich den Flieger auf dem Flugplatz Wildberg im Allgäu an. Die Enttäuschung: Der Pilot ist im SONG in halbliegender Haltung untergebracht, in der alle Bedienelemente nur mit ausgestreckten Armen in Normallänge zu erreichen sind. Eine andere Sitzposition war, auch wegen seiner Körpergröße, nicht möglich.
Ein zweites Problem, das die 120-kg-Klasse mit sich bringt: Die Ausbildung muss auf einem Ultraleichtflugzeug mit zwei Sitzplätzen erfolgen.

Doch durch dieses Problem wurden hier die Weichen zum Erfolg gestellt:

Der an den Gesprächen beteiligte Fluglehrer hielt die Ausbildung auf dem UL für durchaus möglich und meinte, das Medical (welches erst vor dem ersten Alleinflug nötig ist) „werde sich schon fügen". Fünf Minuten später hatte Dr. Jan Schulte-Hillen den Ausbildungsvertrag unterschrieben. (www.flugplatz-wildberg.de, www.hermannwings.de)

Gleich anschließend setzte er sich in das verfügbare Schulflugzeug, eine Remos G3, zum Anpassen der Steuerung.  „Ich war damals so verblüfft darüber, wie selbstverständlich der Fluglehrer Hermann Beck und der Flugzeugmechaniker Wolfgang Zantl mit meiner Anfrage umgingen, dass ich mir gesagt habe: Mach mal keine Vorschläge, lass‘ die das mal sich in Ruhe selber überlegen.“ Mit dem Zollstock wurde abgemessen, wie lang die Verlängerung des Knüppels und des Gasgriffes denn wohl sein müssten.

Man einigte sich darauf, dass man anrufen würde wenn das Flugzeug fertig sei.

„Da ich von ähnlichen Umbauten an Auto und Motorrad wusste, wie lange das dauert, dachte ich mir, naja, Weihnachten werden die sich bei mir melden um zu sagen: ‚Wir haben da ein Problem‘. Egal, ich hatte die Sache mit der Ausbildung unterschrieben und hatte ein sehr gutes Gefühl bei dem Fluglehrer Hermann Beck, der mir als ‚ziemlich erfahren‘ von den anderen Leuten auf dem Flugplatz beschrieben worden war. Später fand ich heraus, dass er 13.000 Flugstunden auf über 130 Mustern, unter anderem dem Starfighter, hatte!
Ich hatte definitiv einen großen Schritt getan und fuhr befriedigt nach Hause, sicher, dass ich nun lange Zeit nichts hören würde.
Ich hatte mich ja sowas von getäuscht!
Nach drei Tagen bekam ich eine Mail mit dem Inhalt: ‚Deine Flight Controls sind fertig, komm bitte zum Fliegen vorbei.‘
Wie bitte???
Drei Stunden später war ich in Wildberg.“

Der von Wolfgang Zantl geschaffene Umbau bestand in einem S-förmigen Alurohr, das an das Rohr des Steuerknüppels angeflanscht worden war. Ein weiteres Rohr verlängerte den Gashebel in die gewünschte Richtung. Eine ähnliche Konstruktion machte den Bremshebel erreichbar. Alles in etwa zehn Minuten ein- und ausbaubar.

Nur: Klappenhebel, Funkgerät, Avionik, Schlüssel, Schalter -  unerreichbar!

 „Ehe ich diesen Sachverhalt überhaupt zur Sprache bringen konnte, meinte der Fluglehrer: Den Rest kannst Du ja mit den Füssen bedienen, ich habe neulich gesehen, wie Du einen Kugelschreiber mit den Füssen aufgehoben hast....
Meine Gegenfrage: Muss ich die Füße nicht dauernd auf den Pedalen halten?
Antwort: Ah geh, mußt net, jetzt fliegen wir aber erst mal ...
Aha.
Und dann sind wir erst mal geflogen, ich barfuss ....
Da musste ich erst mal 55 Jahre alt werden damit mir jemand sagt, dass ich die Schalter am Armaturenbrett eines Flugzeuges auch mit den Füssen bedienen kann. Unfassbar...“

Nach wenigen Flügen meinte der Fluglehrer, dass er keine Probleme für ein Medical sehe, und riet dazu, den normalen UL-Schein statt der Lizenz für 120 kg zu erwerben - die Auswahl an geeigneten Flugzeugen wäre einfach bei den "normalen" ULs wesentlich größer.

 

„Tja, das war im Mai 2015, am 5.10.16 habe ich den Prüfungsflug gemacht, und mein eigener Pilotenschein liegt vor mir auf dem Tisch.“


Zwischendurch gab es noch ein ordentliches Hin und Her mit dem Flugmediziner, der das OK für den Soloflug geben musste. Der Fluglehrer hat hierfür bescheinigt, dass er keine Schwierigkeiten sah. Weiterhin musste mit dem DULV die Abnahme unseres etwas simplen aber hervorragend funktionierenden Umbaus geregelt werden – auch dies erledigte Fluglehrer Hermann Beck.

Des Weiteren hat die Firma Kaufmann in Aalen den Steuerknüppel der Remos mit einem Griff versorgt und die Tasten darin mit den Funktionen für Trimmung und Sprechfunktaste belegt.

Und nicht unwesentlich erschwert wurde das Ganze durch die Tatsache, dass Dr. Schulte-Hillens Arbeitsplatz inzwischen in Baar der Schweiz lag und die Familie weiterhin in München wohnte … aber immerhin liegt der Flugplatz Wildberg auf halbem Weg direkt an der Strecke von Baar nach München.

„Und was kommt jetzt?“  Dr. Jan Schulte-Hillen hat viele Ideen. Welche konkreten Pläne einmal daraus werden, weiß er noch nicht.



Dr. Jan Schulte Hillen steht gerne für Fragen zur Verfügung.

Kontakt:  jan(at)schulte-hillen.com
oder über Die Rolli Flieger – die stolz darauf sind, einen Flieger mit dieser Geschichte als Mitglied begrüßen zu dürfen!

Und den ursprünglichen Erbauer der Remos G3, Lorenz Kreitmayr, hätte dieser Pilot in „seinem“ Flugzeug sicher ganz besonders gefreut – siehe www.rolliflieger.de/LorenzKreitmayr.html .